Was die Systemtheorie über unsere Büro-Obsession verrät
Als systemische Teamcoachin und Führungskräfteenwicklerin beobachte auch ich ein aktuelles Phänomen: Unternehmen rufen ihre Mitarbeiter zurück ins Büro – oft mit fadenscheinigen Begründungen. Ein kürzlich erlebter Fall machte mich besonders nachdenklich: Eine Geschäftsführung entschied, dass alle zurück ins Büro sollen. Alle – bis auf eine Berufsgruppe, die weiterhin remote arbeiten darf. Die Reaktionen? Sarkasmus, Unverständnis, Vorwürfe der Willkür.
Doch was passiert hier wirklich? Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann bietet einen erhellenden Blick hinter die Kulissen.
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(Mit NotebookLM erstellt)
Die funktionale Methode: Was löst Home Office eigentlich?
Luhmanns funktionale Methode stellt eine einfache, aber mächtige Frage: Welches Problem löst eine bestimmte Struktur oder ein Verhalten? Statt zu fragen „Warum gibt es Home Office?“, fragen wir: „Welche Systemprobleme bearbeitet Home Office?“
Die Liste ist lang:
- Work-Life-Integration
- Konzentrationsmöglichkeiten für komplexe Aufgaben
- Talentakquise über geografische Grenzen hinweg
- Kosteneffizienz
- individualisierte Arbeitsumgebungen
Home Office ist keine Laune der Moderne, sondern eine funktionale Antwort auf reale Organisationsprobleme.
Der Rückruf: Welche Probleme soll das Büro lösen?
Jetzt wird es interessant. Wenn die Rückkehr ins Büro die Lösung ist – was ist dann das Problem?
Die offiziellen Begründungen kennen wir alle: Kommunikationsqualität, Teamgeist, Innovationsfähigkeit. Doch meine systemische Brille zeigt andere, meist unausgesprochene Problemstellungen:
Das Leerstand-Problem: Millionenschwere Büroimmobilien stehen leer. Wie erklärt man das Stakeholdern? Die Büro-Rückkehr wird zur Legitimationsstrategie für Sunk Costs.
Das Kontroll-Problem: Klassische Führung basiert auf Sichtbarkeit. Home Office schafft Führungsunsicherheit. Die Rückkehr ist oft der Versuch, alte Kontrollmechanismen zu reaktivieren.
Das Identitäts-Problem: Hier liegt vermutlich der Kern. Organisationen sind Identitätsanker. Das Büro symbolisiert Zugehörigkeit und verstärkt das „Wir-Gefühl“.
Die systemische Paradoxie: Identität durch Zwang?
Doch hier offenbart sich eine faszinierende Paradoxie: Je stärker Unternehmen ihre Mitarbeiter ins Büro zwingen, desto schwächer wird oft die echte Identifikation. Warum?
Meine Beobachtung aus der Praxis: Menschen entwickeln das stärkste Zugehörigkeitsgefühl durch gemeinsame Arbeit an herausfordernden, sinnvollen Aufgaben – unabhängig vom Ort. Remote-Teams in kritischen Projekten zeigen oft intensivere Bindungen als Büro-Kollegen mit Routineaufgaben.

Das eigentliche Führungsversagen
Die Büro-Rückkehr entlarvt häufig ein systemisches Führungsversagen: Statt aktiv identitätsstiftende Prozesse zu gestalten, hofft man auf die „natürliche“ Wirkung des Raumes. Das ist systemische Faulheit – man überlässt dem Büro, was eigentlich Führungsarbeit wäre.
Identität entsteht nicht durch räumliche Nähe, sondern durch gemeinsames Handeln, geteilte Herausforderungen und Erfolgserlebnisse. Viele Unternehmen produzieren endlos Kommunikation über ihre Werte, schaffen aber keine Gelegenheiten für gemeinsame, wertgesteuerte Aktionen.
Funktionale Äquivalente: Es geht auch anders
Die systemische Perspektive öffnet den Blick für Alternativen. Wenn das Problem mangelnde Identität ist, gibt es andere Lösungswege:
- Digitale Rituale, die echte Verbindungen schaffen
- Intensive physische Formate in regelmäßigen Abständen
- Gemeinsame Projekte, die über Abteilungsgrenzen hinweg verbinden
- Führungskräfte, die bewusst Sinn und Zugehörigkeit kultivieren
Das erfordert jedoch etwas, was vielen Führungskräften schwerfällt: Die bewusste Gestaltung von Identitätsprozessen statt deren Delegation an den Raum.
Die Systemfrage für Führungskräfte
Erfolgreiche Unternehmen der Zukunft werden nicht die sein, die ihre Mitarbeiter ins Büro zwingen, sondern die, die gelernt haben, remote starke organisationale Identität zu schaffen. Die Büro-Rückkehr könnte sich als Übergangsphänomen mangelnder Führungskompetenz erweisen.
Deshalb meine Frage an Sie als Führungskraft – eine Frage, die alles verändern kann:
Was würden Sie tun, um Identität und Zugehörigkeit in Ihrem Team zu stärken, wenn es kein Büro gäbe?
Diese Antwort könnte der Schlüssel zu einer Führung sein, die Menschen wirklich verbindet – egal wo sie arbeiten.

Ines Schaffranek
Systemische Teamcoaching + Führungskräfteenwicklerin
Ines ist Sparringspartnerin für Führungskräfte, die in komplexen Systemen navigieren. Nach ihrem Kulturwissenschaftsstudium und Jahren der Beobachtung, wie Teams sich selbst sabotieren, hat sie ihre Mission gefunden: Zusammenarbeit so zu gestalten, dass Menschen aufblühen statt ausbrennen. Seit 2019 begleitet sie als systemischer Teamcoach (ORSC) Organisationen beim Debugging ihrer Führungskultur. Privat tauscht sie Systemtheorie gegen Schwerkraft – beim Rollerskating in Rampen, wo Fehler sofort spürbar werden.
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